...

Ich bin die Tochter eines Alkoholikers. Ich „durfte“ meine ersten 16 Lebensjahre unter seiner „liebevollen Obhut“ aufwachsen. Ich „durfte“ miterleben, wie er meine Mutter tyrannisierte, beschimpfte und schlug. Er nannte sie daheim „du dumme Kuh“. Abends forderte er sie zärtlich mit den Worten: „Alte komm endlich ins Bett.“ zum Geschlechtsverkehr auf. Meine Mutter ergab sich ihrem Schicksal, um ihn nicht noch mehr zu erzürnen und der drohenden Prügel zu entkommen.
Ich erinnere mich nicht und weiß nicht, ob mich mein Vater jemals liebevoll in den Arm genommen hat. Die Bilder von einem betrunkenen Vater hingegen, der zitternd und blutend, nach einem Treppensturz im Suff, auf einem Sessel im Wohnzimmer sitzt, haben sich tief in mein Hirn gebrannt.
Mein Bruder sagt, ich soll die Vergangenheit ruhen lassen, schließlich bin ich ja heute erwachsen und habe ein gutes Leben. Er sagt, die 16 Jahre wären nicht mal ein Drittel meines Lebens und ich solle aufhören, Vater für alles, was schief läuft verantwortlich zu machen. Ich fühle mich unverstanden und ich bin wütend. Ich weiß, dass ich die Vergangenheit nicht ändern kann. Ich weiß auch, dass sich Vater nie bei mir entschuldigen wird.
Mein Bruder hat ein Nest gefunden, schluckt allabendlich einige Biere und wünscht sich, dass ich die schlafenden Hunde nie mehr wecke, da er sich in seinem Leben schon genug für sein Elternhaus geschämt habe. Er wünscht sich, dass ich aufhöre mit dem Opfergehabe, denn schließlich hat er ja all die Jahre Prügel bezogen.
Nein, ich wurde nicht windelweich geprügelt und ich wurde von meiner Mutter geliebt. Doch sie konnte mich nicht behüten, weil sie das Opfer meines Vaters war. Ich habe bis heute kein Nest gefunden. Ich konnte Nähe nie gut aushalten und wenn mich jemand wirklich schätzte war ich umgehend wieder Single. Ich schätze mich nicht, warum sollte das ein Mann tun, wenn er einigermaßen klar im Kopf ist. Ich bekomme oft gesagt, dass ich klug und stark und sexy bin. Ich erfahre Bestätigung in meinem Job. Daheim bekomme ich durch meinen Scheiß-Perfektionismus gar nichts auf die Reihe. Meine Rechnungen begleiche ich erst dann, wenn die Mahnung schon ins Haus flattert. Steuererklärungen werden einen Tag vor der Deadline abgegeben. Beim Putzen fange ich an drei Orten gleichzeitig an und bringe es nicht zu Ende.
Ich habe versucht meinem Vater Brücken zu bauen. Als mein Ziehsohn starb rief ich ihn an. Ich dachte, ihm würde klar werden, dass es sich jetzt entschuldigen muss, weil dieses Leben endlich ist. Das letzte Jahr endete mit dem Hirninfarkt meiner Mutter und das Neue begann mit dem tragischen Tod von D. Es folgte der Hautkrebs meiner Mutter, die Feststellung eines Tumors in ihrem Darm, einer Leberzirrhose, sowie zum krönenden Abschluss ein Nierenversagen. Ich habe meiner Mutter beigestanden, so gut ich konnte. Eine Freundin erlitt einen Herzinfarkt, eine andere forderte mehr Empathie meinerseits, sowie die Einsicht meiner Fehler. Mein Freund verließ mich, weil ihn meine Art zu leben und mein Schnarchen abschreckten und da bin ich nun: ausgebrannt, aber gewillt, es in die Reihe zu bekommen. Ich will nicht mehr der Beziehungsgestörte Pausenclown sein, ich möchte das Recht haben, zu sagen, dass meine Kindheit traumatisch war, ich will mich nicht mehr unterordnen, ich möchte mich entspannen lernen und vor allem das Loslassen. Ich möchte selber entscheiden, ob ich meinem Vater vergebe, ich möchte nicht erzogen werden. Ich möchte nett zu mir sein und ich möchte meinem Kind ein warmes Nest bieten. Ich möchte wieder Energie für mein Leben.
Meine Mutter ist wieder auf dem Damm, der kleine Prinz ist bis morgen in Frankreich, der Ex auf nem Lehrgang, die Einsicht fordernde Freundin in Schweden, der Bier trinkende Bruder auf Mopedtour. Nachdem ich nun tagelang organisiert habe, haben die Kassen grünes Licht gegeben. Sie übernehmen die Kosten für meine teilstationäre Klappse. Der Therapeut in dieser Einrichtung wird entscheiden, ob ich mich dort mit meinen Indikationen einloggen darf. Für meinen Sohn habe ich eine Betreuung im Ersatzhort klar gemacht. Ich hab ihm schon vor seiner Reise gesagt, dass die Reha für mich notwendig ist. Die Weichen sind jedenfalls gestellt – Zeit für einen Nachtschlaf.
Rosa (Gast) - 17. Aug, 08:49

Neustart ist gut - aber dafür sollte die Vergangenheit abgehakt sein.

userli - 17. Aug, 09:17

Guter Plan, aber ich habe Schwierigkeiten mit der Umsetzung des Abhakens. Ich hatte gehofft, dass es reicht, wenn ich mich distanziere. Doch dafür ernte ich stets Unverständnis und Kritik und das lässt mich immer an meiner Entscheidung zweifeln. Aber ich werde es versuchen, weil das Leben hier und jetzt statt findet.
Rosa (Gast) - 17. Aug, 18:21

Und wenn Sie hinter Ihren Entscheidungen stehen, tut Kritik auch nicht mehr so weh. ;)
C. Araxe - 17. Aug, 21:26

Ich weiß nicht, ob man es wirklich schaffen kann, vollkommen frei von seiner (schwerwiegenden) Vergangenheit zu sein. Aber man kann es lernen, damit zu leben. Also, dass es zwar Situationen, Momente gibt, die triggern, diese jedoch nur kurze Phasen sind und man dies genauso erkennt, im Großen und Ganzen jedoch die Vergangenheit abgehakt hat.

userli - 18. Aug, 02:12

Lieben Dank für die netten Kommentare - sie machen mir Mut. Heute wurde mir mitgeteilt, dass ich erst im November mit einem Platz in der Reha rechnen kann. Ich war so enttäuscht, dass ich weinen musste. Die Bearbeiterin sah mich an, streichelte meine Hand und sagte, sie lässt meinen Antrag auf ihrem Tisch, für den Fall dass einer der geplanten Patienten abspringt. Nun hoffe ich wieder und überlege mir, wie ich die Zeit (eben auch bis November) überbrücke. Mein Sohn ist wieder da, das gibt mir soviel Kraft. Er ist so groß und selbständig. Es scheint mir, als wäre ihm die Reise großartig bekommen und als wäre er in diesen 9 Tagen gewachsen (nicht nur körperlich). Klar haben wir uns sehr vermisst, aber nun hat er erfahren, dass er loslassen darf und dass er mich dabei nicht verliert. Ich werde morgen die Therapeutin um einen Termin bitten und vielleicht, kann sie mich ja bis November beim "über Wasser halten" unterstützen.

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