Samstag, 22. April 2017

Neuanfang

Habe heute darüber nachgedacht, ob ich meinem Vater einen Brief schreiben sollte, aber was sollte ich ihm sagen? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass bald der Zeitpunkt für Vaters „letzte Reise“ naht. Bin so ambivalent wie noch nie – soll ich ihm noch einmal die Hand reichen, oder will ich so etwas wie einen Paukenschlag, der alte Emotionen, Traumata, Dreck und Staub zu Tage bringt? Er wird nicht zurückblicken, er wohnt in seiner blumigen Phantasievergangenheit und ist darin gefangen. Er hat das Verdrängen schließlich erfunden, so wie er immer alles wusste, alles konnte, alles schon einmal erlebt hatte und zu allem etwas zu sagen hatte. Was soll ich dem alten Mann bloß sagen? Und wie soll ich es sachlich und emotionsfrei tun? Ich bin wütend. Hätte es nicht gereicht, meine Kindheit zu stehlen und nicht auch noch die meines Sohnes? Aber da ist auch schon der Fehler – ich selbst bin für die Kindheit meines Sohnes verantwortlich.

Der kleine Prinz hinkt seinen Altersgenossen meilenweit hinterher. Nicht von seinem Intellekt her, nein aber in seiner emotionalen Entwicklung. Er weint, wütet und versucht mich (manchmal) zu schlagen, wenn ich ihm Grenzen setze. Aber er ist keine 3 Jahre alt, er ist 11. Ich möchte liebevoll mit ihm umgehen, aber er lässt mir keinen Raum. Sicher reflektiert er es, wenn es mir gut geht und ist dann auch ausgeglichener. Er lässt niemanden zu Wort kommen, hüpft rastlos und angetrieben (durch was?) durchs Leben. Neben seinen tausend Ängsten (vor allem Verlustangst) pflegt er akribisch seine Abneigung gegen Vitamine und füllt seine Leere mit Chips, Schokolade und Zucker. Dabei bettelt er unablässig um Gehör, Liebe und Zuwendung. All das versuche ich ihm zu geben, aber es (er) frisst mich manchmal auf. Ich bin froh, dass ich seiner körperlichen Gewalt etwas entgegen setzen kann ohne ihn dabei zu schlagen und zu verletzen, nur wie lange kann ich das noch? Ich schäme mich in Grund und Boden für meine Hilflosigkeit, meine Prokrastination und ja, auch für meine Wut. Mittlerweile eckt er auch bei seinen Mitschülern an, die ihn für seine kindlichen Ausbrüche mobben. Neulich musste ich mit ihm in die Notaufnahme einreiten, weil ihm ein anderes Kind spielerisch einen Ball im Rucksack auf den Kopf gehauen hatte. Ihm war schlecht, er weinte und machte aus dieser Lappalie in seiner Welt mindestens eine Schädelfraktur daraus. Die Schulsekretärin drückte mir eine Unfallanzeige in die Hand, also blieb mir nichts anderes übrig, als einen Arzt draufschauen zu lassen. Er war putzmunter, orientiert und wie von mir erwartet, nahmen wir unnötig Zeit der behandelnden Ärztin in Anspruch. Ich behielt die Contenance, versuchte meinen Sohn ernst zu nehmen, ihm zu vermitteln, dass ich für ihn da bin, obwohl ich mich am liebsten für die gestohlene Zeit entschuldigt hätte. Zum Glück war die Ärztin professionell, sagte dem kleinen Prinzen, er solle sich mal ordentlich ausruhen und dass er nach dem Wochenende wieder in die Schule gehen könne.

Nachdem ich erkannt habe, dass meine Ressourcen langsam erschöpft sind, schrieb ich eine E-Mail an eine Beratungsstelle:

„Sehr geehrte Damen und Herren, ich benötige dringend ein Beratungsgespräch. Ich bin alleinerziehende Mutter eines 11jährigen Sohnes, der die 5. Klasse besucht. Ich gehe in Vollzeit arbeiten. Mein Sohn, ist von Anfang an ohne Vater groß geworden. Ich habe versucht alles richtig zu machen und ihm trotzdem ein liebevolles, Zuhause zu geben. Ich selbst stamme aus einer Alkoholikerfamilie. Mein Vater schlug meine Mutter. Ich war lange still und angepasst. Ich weiss, wie es sich anfühlt, haltlos und auf sich selbst gestellt zu sein. Das wollte ich für mein Kind alles anders machen. Als er 5 Jahre alt war, erkrankte ich am Myelodisplastischen Syndrom (Leukämie). Ich hatte Glück im Unglück, denn mein Sohn konnte für die Zeit meiner Stammzellentransplantation (5 Wochen) bei meiner Freundin in ihrer Familie wohnen. Ich wurde wieder gesund und er wurde eingeschult. Er war den anderen Kindern in seiner körperlichen Motorik weit hinterher, da er durch einen Nystagmus und seiner Weitsichtigkeit stark im Sehvermögen eingeschränkt war. Dennoch kam er im Klassenkollektiv gut zurecht und fand Freunde. Nun in der 5. Klasse muss er viel aushalten, da er oft in Opferrollen gerät, oder sich selbst da hinein manövriert. Er ist nicht selbstbewusst genug, um Verbalattacken abzuwehren, schnell entmutigt und leidet unter tausend Ängsten, die sich somatisch niederschlagen. Im Grunde ist er ein lieber, humorvoller und durchaus kluger kleiner Kerl. Ich glaube, ich habe ihm nicht genug Grenzen aufgezeigt und war zu wenig konsequent. Er durfte zuviel Zeit an seinen Spielkonsolen verbringen. Ich liebe meine Arbeit und möchte nicht verkürzt arbeiten gehen. Meine Arbeit ist meine Insel. Wir sind finanziell abgesichert. Seit längerer Zeit schaffe ich es nicht mehr unseren Haushalt in den Griff zu bekommen. Langsam bekommt die Wohnung Messi-Züge. Ich lasse niemanden mehr herein und ich schäme mich zu Tode, weil ich weiß, das mein Kind neben Liebe und Grenzen auch Ordnung benötigt. Gestern kam es dann zur richtigen Eskalation. Mein Sohn wollte in den Elektromarkt laufen, um etwas für seinen Nintendo zu kaufen. Ich sagte: Nein, du machst erst deine Hausaufgaben und dann ist es sicher auch zu spät. Er nahm einen Stuhl und warf ihn durchs Wohnzimmer, dann begann er nach mir zu treten und mich zu schlagen (leider kam das schon oft vor). Ich weiß, dass ich mit das nicht gefallen lassen darf, also brachte ich ihn mit einem Polizeigriff zu Boden und setzte mich auf ihn (das habe ich zum ersten mal gemacht. Als er noch kleiner war, hielt ich nur seine Hände fest). Er beschimpfte mich abscheulich und war dabei so voller Hass. Ich sagte ihm, dass Gewalt immer nur noch mehr Gewalt erzeugt und dass ich das nicht möchte. Ich wollte ihm zeigen, dass ich ihm körperlich sehr wohl überlegen bin ohne ihn zu verletzen. Er weinte und entschuldigte sich. Vor zwei Jahren etwa war ich mit ihm bei einem Kinderpsychologen. Dieser erklärte ihm, dass er einen Vater benötigt und ließ ihn auf sich reiten. Er (der Psychologe) wollte den Kontakt zum Bio-Vater herstellen und schrieb ihn an. Ich war ambivalent. Einerseits brauche ich dringend Hilfe bei der Erziehungsarbeit, andererseits hatte mich der Vater schon während meiner Krankheit abblitzen lassen, als ich ihm schriftlich mitgeteilt hatte, dass das Sorgerecht auf ihn fällt, wenn ich die Transplantation nicht überlebe. Er schrieb, mein Sohn wäre überall besser aufgehoben als bei ihm und wünschte mir gute Besserung. An das Jugendamt möchte ich mich nicht wenden, die sagen nur, ich solle froh sein, dass der Bio-Vater überhaupt etwas zahlt und dass der Unterhalt bei meinem guten Einkommen nicht ganz entfällt. Ich möchte unser Leben wieder in Ordnung (auch im wahrsten Sinne des Wortes) bringen. Für eine Terminabsprache erreichen Sie mich unter der Telefonnummer …
Mit freundlichem Gruß…“

Nach ein paar Tagen erhielt ich die Rückmeldung, sowie einen Termin. Es fühlte sich richtig an. Die Beratungsstelle verwies mich nach einem ersten Sortieren der Baustellen dann doch ans Jugendamt. Ich hatte Panik und Angst, dass sie mir meinen Sohn wegnehmen. Doch wider Erwarten bekam ich dort Hilfe. Ich werde in Zukunft an einem Haushaltsorganisationtraining teilnehmen. Der kleine Prinz bekommt zweimal die Woche einen männlichen Betreuer an seine Seite. Ich werde auch noch einmal einen Therapeuten für ihn suchen. In der Beratungsstelle hatte man mich auch gefragt, was ich benötige. Ich war sprachlos. Nachdem ich so viele Jahre gebraucht hatte, bis ich endlich erkannte, dass ich selbst für mich sorgen muss, bietet mir jemand Hilfe an. Das überfordert mich, weil ich nicht weiß, ob mir das zusteht.

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